Als ich an einem Mittwochabend das Internet nach einer neuen binge-würdigen Serie durchforstete, landete ich bei der ominös klingenden Serie "Bungo Stray Dogs". "Stray Dogs" steht für "Straßenhunde" oder "Streuner", so viel ist klar. Aber "Bungo"? Nach wenigen Klicks im Internet war ich schlauer: "Bungō" bedeutet im japanischen "wahre Meister des Wortes". Dieser inoffizielle Titel wird großen Literaten bis heute verliehen. Außerdem basierte der Anime (japanischer Zeichentrick) auf einem gleichnamigen Manga (das japanische Pendant zu Comics) von Kafka Asagiri und Sango Harukawa. Mein Interesse war also geweckt. Mit den Tags "Action", "Myserty" & "Krimi" war entschieden – diese Serie wäre meine abendliche Beschäftigung. Nur ahnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht, dass mich die "Streunenden Literaten" weitaus länger beschäftigen würden.
Nicht nur den Geburtstag & Namen teilen die handlungsrelevanten Figuren mit berühmten Autoren: Auch ihre Fähigkeiten (dazu gleich mehr) und Charakterzüge spiegeln Literaten aus aller Welt sowie deren Werke wider. Vor allem japanische Schriftsteller rücken in den Vordergrund, dennoch gehören auch einige europäische und amerikanische Literatur-Legenden zum Figurenrepertoire.
Die Serie spielt im heutigen Yokohama, einer Hafenstadt in Japan. Ein Teil der Menschen hat verschiedenste übernatürliche Fähigkeiten entwickelt. Ein ähnliches Konzept kennt man aus "My Hero Academia". Diese "befähigten" Menschen haben sich zum "Büro der bewaffneten Detektive" zusammengeschlossen. Sie fungieren als eine Art Privatdetektei und gehen übernatürlichen Verbrechen nach. Ihr größter Gegenspieler um die Sicherheit Yokohamas ist die Hafenmafia. Das ist vorerst alles, was man wissen muss, um den brillanten Realitätsbezug der Figuren zu verstehen.
Dazai Osamu wurde am 19. Juni 1909 als Tsushima Shūji geboren. In der Serie begegnen wir Dazai erstmals bei dem Versuch sich im Fluss zu ertränken. Eine Anspielung an den Schriftsteller Dazai, der mit der 19-jährigen Kellnerin Shimeko "ins Wasser gehen" wollte. 1935 versuchte er sich zu erhängen. Letztendlich ertränkte er sich am 13. Juni 1948 mit seiner Geliebten Yamazaki Tommy im Tama Kanal, der übrigens nur 24 Minuten Autofahrt von Yokohama entfernt liegt. An seinem Geburtstag wurde seine Leiche geborgen. Seine Todes-Affinität wird auch in der Serie thematisiert, wobei sein leichtherziger Wesenszug einen humorvollen Kontrast bildet.
Freude bereitet hatte ihm in der Tat das Lesen & Malen, was beides in der Serie zum Thema gemacht wird, denn laut dem fiktionalen Dazai ist "ein gutes Buch [...] immer ein gutes Buch, egal wie oft du es schon gelesen hast". Dazais Liebe zu Kunst wird behandelt, als er im Yokohama Museum of Art ein Gemälde betrachtet: "Was für ein komisches Gemälde. Das hätte selbst ich malen können." Tatsächlich zeigt das Gemälde eine 1940 von Dazai gemalte Landschaft. Sieht man genau hin, erkennt man in der rechten, unteren Ecke seine Signatur. Auch sein "Selbst-Portrait" in expressionistischem Stil aus 1947 wird erwähnt.
Zu seinen Werken zählen unter anderem "Schoolgirl", "After the Setting Sun", "No longer Human", ein semi-autobiografischer Roman, der namensgebend für Dazais Fähigkeit ist, sowie der unvollendete Fortsetzungsroman "Guddo Bai".
Dazai ist zudem der einzige Charakter in der Serie der sowohl für das Büro der bewaffneten Detektive als auch für die Hafenmafia gearbeitet hat, was seine charakterliche Ambivalenz unterstreicht. Die V-Pose hat der Autor sich bei seinem Idol Akutagawa abgeschaut. Sie wurde ebenfalls in Bungo Stray Dogs integriert.
Im Gegensatz zu den anderen Autoren dieser Liste publizierte Chūya Nakahara überwiegend Lyrik, die jedoch selten dem Zeitgeist entsprach und deshalb zu seinen Lebzeiten wenig Beachtung fand. Anfangs ein Überflieger in der Schule rebellierte er aufgrund der zahlreichen Strafen, die sein Vater ihm auferlegte, entwickelte eine Präferenz für Zigaretten & guten Wein und adaptierte einen bohemischen Lebensstil.
Darum hat er auch in der Serie ein anti-autoritäres Temperament, was sich ebenso in seiner vom Dadaismus geprägten Kunst widerspiegelt. Man nannte ihn darum scherzhaft "Dada-San" ("San" fungiert in der japanischen Sprache als Anrede beziehungsweise Pronomen, bedeutet geschlechtsunabhängig "Herr" oder "Frau" & wird in einem sehr allgemeinen Kontext benutzt). Der Name seiner Fähigkeit "Upon the Taintet Sorrow" basiert auf einem gleichnamigen Gedicht. Die Rebellenorganisation namens "Sheep", der er angehörte, bevor er für die Hafenmafia arbeitete, ist nach seinem Gedicht "Sheep Song" benannt. Ähnlich wie bei Dazais V-Pose übernahm man für Chūyas Design den Hut, mit dem er auf seinem berühmtesten Portrait abgelichtet ist.
Vor Dazais Zeit im Büro der bewaffneten Detektive bildete er mit Chūya eine 2-Mann-Sondereinheit, das "Doppelte Schwarz". Diese Arbeitsbeziehung basiert auf einem gemeinsam literarischen Projekt, welches die Autoren planten, jedoch nie realisierten, da sie nicht gut miteinander auskamen – auch in der Serie ist ihr Verhältnis, zumindest augenscheinlich, nicht das beste.
Akutagawa Ryūnosuke kombinierte als einer der ersten asiatischen Dichter den einheimischen Literaturstil mit europäischem Einfluss, wodurch er die östliche Literatur modernisierte. Zur Anerkennung dieser Leistung ist heute der begehrte Akutagawa-Peis nach ihm benannt. Viele andere Schriftsteller wurden nachhaltig von ihm beeinflusst, darunter auch der junge Dazai, der sich an Akutagawas Freitod im Jahr 1927 ein Beispiel nahm. Er litt an einer Psychose, die sich unter anderem in Halluzinationen und Angstzuständen äußerte. In der Erzählung "Zahnräder" verarbeitete Akutagawa gewissermaßen die Symptome, die seine psychische Kondition mit sich brachte.
Auch seine physische Gesundheit ließ zu wünschen übrig – 1918/19 und 1921 litt er aufgrund unterschiedlicher Ursachen an einem schweren Husten, weswegen auch sein Charakter in Bungo Stray Dogs hin und wieder von Husten unterbrochen wird. Inhaltlich griff der Autor viel gestalteten Stoff aus dem japanischen Mittelalter auf, was sein auffallend altmodisches Erscheinungsbild erklärt. Er würzte die bekannten Geschichten mit einem psychologischen Hintergrund, wodurch das Geschehen auf aktuelle Verhältnisse übertragbar bleibt, wie man in "Hana" oder "Rashōmon" lesen kann. Letzterer Titel ist auch die Bezeichnung für seine Fähigkeit.
Der eigentliche Protagonist in Bungo Stray Dogs ist Nakajima Atsushi. Als junger Mann unterrichtete Atsushi in Yokohama, dem Schauplatz der Serie. Für seine Erzählung "Licht und Wind und Traum" wurde er für den Akutagawa-Preis nominiert. Thema ist Robert Louis Stevenson, der Autor von "Die Schatzinsel" oder "Der seltsame Fall des Dr. Jekyll & Mr. Hyde" (meine Gedanken dazu findest du hier). In der Serie beruft man sich auf die Kurzgeschichte "Tiger jagen", mit der er debütierte und an der sich die Handlung der ersten Folge lose orientiert. (Dazai und sein Partner sind auf der Jagd nach einem weißen Tiger, der Atsushi zu verfolgen scheint. Es stellt sich heraus, dass dieser Tiger Atsushi selbst, oder besser gesagt seine Fähigkeit, ist.)
Akutagawa ähnlich, brachte Atsushi einen chinesischen Subtext in seine Werke ein, was dazu führte, dass beide oft verglichen wurden. Diese "Rivalität" wird auch ein fester Bestandteil der Serie. Denn Atsushi, der zum Büro der bewaffneten Detektive gehört, wurde von Dazai als neuer Protegé auserkoren, was Akutagawa als ehemaligem Schüler, der nach wie vor versucht, seinem Mentor zufriedenzustellen, mißfällt. Da beide unterschiedlichen Organisationen unterstehen, agieren sie ohnehin gegeneinander.
Als im späteren Handlungsverlauf eine größere Bedrohung über Yokohama schwebt, sind beide gezwungen zusammen zu arbeiten. Wenn man den Kontext deuten kann, erkennt man schon früher Andeutungen auf eine zukünftige Zusammenarbeit: Der Name "Akutagawa" wird mit dem Schriftzeichen für "Drache" geschrieben, der in der chinesischen Mythologie als Gegenteil des "Tigers" gesehen wird und somit für einen Machtausgleich sorgt. Beim in Japan weit verbreiteten Buddhismus stehen diese beiden Tiere des Weiteren für Yin und Yang, was sich auch im Charakterdesign von Akutagawa und Atsushi widerspiegelt.
Mori Ōgai, eigentlich Mori Rintarō, geboren 1862, arbeitete als Militärarzt, Dichter und Übersetzer. Er war der erste Sohn eines fürstlichen Leibarztes und studierte unter anderem in Leipzig und Berlin bei Robert Koch. Später wurde er Vorsitzender der japanischen Akademie der Künste. Einen ähnlichen Werdegang hat Mori auch in Bungo Stray Dogs. Anfänglich Leibarzt des Oberhauptes der Hafenmafia, nahm er nach dessen Tod den Posten an der Spitze der Organisation ein.
Ruhm brachten ihm seine Erzählung "Die Tanzprinzessin" und die Übersetzung von "Faust" ins Japanische. Ursprünglich kritzelte er die Übersetzung in sein Tagebuch, nachdem er Auerbachs Keller besucht hatte. Später entschied er sich dazu, sie zu veröffentlichen. Einzug in die Serie hielt hingegen die in Japan nach der Veröffentlichung zensierte Novelle "Vita Sexualis", was ebenfalls der Name seiner Fähigkeit im Anime ist.
In den späten 1860er und 1870er Jahren bildete Fukuzawa Yukichi das Rückgrat der japanischen Aufklärungsbewegung. Sein "Abriss einer Theorie der Zivilisation" beschäftigte sich mit westlicher Politik, Ökonomie & Philosophie. Sein "Aufruf zur Wissenschaft" mit dem Anfangssatz "Alle Menschen sind gleich." wird zwar oft angepriesen, stammt aber ursprünglich aus einer anderen Quelle, die er übersetzt in sein Werk aufnahm.
Nichtsdestotrotz präsentiert diese Aussage die fundamentalen Werte seiner Figur und seines Charakters im realen Leben, darum ist es auch der Name seiner Fähigkeit. À la "Sapere Aude!" ermutigte der Autor die Menschen unabhängig zu sein, Selbstachtung zu wahren und zu studieren. Fukuzawa kann also als philosophisches Vorbild gesehen werden, was sich in seiner Rolle als Oberhaupt des Büros der bewaffneten Detektive spiegelt.
Wie später Akutagawa & Atsushi, beziehungsweise Dazai & Chūya, sticht die Dynamik der beiden gegensätzlichen Charaktere hervor, da sie sich mit Respekt, Anerkennung und sogar Vertrauen begegnen, einander jedoch nicht leiden können.
Mori und Fukuzawa wurden zusammengeführt, als Letzterer eine Zeit lang als Personenschutz für Mori agierte, bevor beide die Führungsposition ihrer jeweiligen Organisation übernahmen.
Veranlasst wurde dies durch Sōseki Natsume, einen der bekanntesten Schriftsteller der Meiji-Periode. Sōseki begann seine Schriftstellerkarriere mit verschiedenen Kurzgeschichten über einen intelligenten Kater, der den Alltag seines Besitzers begleitet und das Streben der Menschen in seinem Umfeld humoristisch kommentiert.
Zusammengefasst wurden diese Geschichten später zu dem Roman "Ich, der Kater", dessen erster Satz "Gestatten, ich bin ein Kater. Unbenamst bislang" bis heute einen großen Wiedererkennungswert in der japanischen Kultur hat.
Für eingehendere Informationen & Quellmaterial empfehle ich diesen Blog, der sich ausschließlich mit den Autoren aus Bungo Stray Dogs befasst.
Comments